Notizen zum Humboldt-Jahr

Text: Ludwig Fischer
Bild 'Baron Alexander von Humboldt': Julius Schrader, 1859. Quelle: Metropolitan Museum of Art / metmuseum.org, Lizenz: Public Domain. https://www.metmuseum.org/art/collection/search/437640

Vor 250 Jahren wurde Alexander von Humboldt geboren, vor 160 Jahren starb er – allenthalben erinnert man an den großen Forscher. Aber wer kann schon sagen, ob und weshalb der berühmte Gelehrte uns heute noch – und vielleicht gerade heute – mit seinem Denken, seinen Schriften herausfordert?

Zu Lebzeiten war Humboldt einer der bekanntesten, weltweit hoch geachteten Männer. Man kann seine Berühmtheit – bis nach Australien, Hinterindien, Afrika, Südamerika – allenfalls mit der von Pop- oder Filmstars unserer Tage vergleichen, nur dass Humboldt Einfluss und Achtung bis in die Regierungsspitze nicht nur der USA, sondern vieler Länder auf dem Globus genoss.

Allein Humboldts Korrespondenz ist schier unfassbar – er schrieb (und empfing) bis zu 5.000 Briefe pro Jahr, stand im Austausch mit Hunderten von Wissenschaftlern, verschaffte sich Forschungsergebnisse und Materialien aus allen Teilen der Erde. Wenn er – als Kammerherr dem preußischen König nicht zuletzt zu diplomatischen Diensten verpflichtet – dem Monarchen auf dessen verschiedene Schlösser folgte, dann ließ er manchmal Dutzende von großen Kisten mit seinen Unterlagen und Manuskripten mitkommen, um weiter an seinen Büchern arbeiten zu können.

Allein den Reisebericht und die Forschungsergebnisse von seiner großen Expedition nach Süd- und Mittelamerika 1799 bis 1804 schrieb er zwischen 1805 und 1839 in 30 Bänden nieder, auf Französisch – Humboldt lebte lange Zeit und auch in späteren Jahren immer wieder in Paris, dem gegenüber er Berlin provinziell und spießig fand. Er war in der französischen Hauptstadt zudem als ›Salonlöwe‹ bekannt: Nach einem langen Arbeitstag besuchte er oft noch bis nach Mitternacht die legendären Salons der kulturellen Elite.

Humboldt war nicht nur ein zu seiner Zeit fortschrittlicher, universal interessierter Wissenschaftler, sondern zugleich ein glänzender Schriftsteller. Als er 1808 das Buch ›Ansichten der Natur‹ veröffentlichte, einen vergleichsweise schmalen Band mit einer Reihe von ausgewählten Essays über seine Erlebnisse und Forschungen in Amerika, wurde er, der sich mit Goethe austauschte und ihn bewunderte, mit dem großen ›Dichterfürsten‹ verglichen.

Aber Humboldt sah selbst eine Spannung zwischen der Mitteilung wissenschaftlicher Beobachtungen, Messergebnisse, Folgerungen einerseits und der Tendenz zu einem »dichterischen Stil« andererseits, wie er in der Vorrede des Buchs schrieb. Bald nach seinem Tod sollte diese Spannung, besonders scharf im deutschsprachigen Raum, zu einer beinahe dogmatischen Trennung zwischen Wissenschaftssprache und literarischer Prosa führen.

Anders in den anglo-amerikanischen Bereichen: Humboldt wurde das große, bewunderte Vorbild für Autoren des ›Nature Writing‹, der literarisch anspruchsvollen Darstellung genauer, auch wissenschaftlich fundierter Naturerkundung. Beispielhaft dafür steht Henry David Thoreau. Der noch heute enorm wirkmächtige ›Gründervater‹ des US-amerikanischen Nature Writing berief sich in seinem Vorsatz, eingehende Naturbeobachtung und –erforschung in einer lebendigen, erlebnisgesättigten und nuancenreichen Sprache zu vergegenwärtigen, ausdrücklich auf Alexander von Humboldt.

In Deutschland hat Humboldts Werk keine vergleichbare Wirkung entfalten können. Deutschsprachige ›Naturbücher‹ tendierten schon bald entweder zu gefälligen Geschichten aus der Tier- und Pflanzenwelt à la ›Brehms Tierleben‹, mit dem bis heute anhaltenden Zug, die Natur ziemlich umstandslos zu vermenschlichen, oder aber zu gefühligen, gar schwülstigen Naturschilderungen ohne genaue, sachlich haltbare Grundlage, wie sie zum Beispiel der erfolgreiche Hermann Löns lieferte.

Insofern enthält Humboldts gefeiertes Werk auch heute noch erhebliche Herausforderungen an diejenigen, die ›über Natur‹ schreiben wollen. Aber auch seine wissenschaftliche Leistung ist nicht einfach überholt, mit der gigantischen Expansion der diversen Wissenschaften in den letzten 150 Jahren. Sozusagen im Gegenteil: Zentrale Fragestellungen und Grundgedanken des legendären Forschers entfalten heute, im Gewand neuer Begriffe und Theorien, eine ungeahnte Wucht.

Nur auf einen der Antriebe in der rastlosen Arbeit des Gelehrten sei hier noch hingewiesen: Humboldt sah es als Ziel aller Anstrengungen an, aus dem verschiedensten Wissensgebieten die detaillierten Forschungsergebnisse zu versammeln, um das Zusammenwirken aller ›natürlichen Faktoren und Kräfte‹ zu einem unendlich vielfältigen, ungeheuer ›sinnreich‹ wirkenden Gesamtgefüge zu begreifen. Er setzte ermittelte klimatische Bedingungen, Bodenbeschaffenheiten, meteorologische Einflüsse, geografische Lagen auf dem Erdball, Höhenunterschiede, Wasserhaushalte, Lichtverhältnisse und vieles mehr zueinander in Beziehung, weil er, wie er in der Einleitung zu seinem großen Spätwerk ›Kosmos‹ schrieb, es als die eigentliche Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntnis ansah, ›die Natur‹ als ein unerhört komplexes, fein abgestimmtes ›Ganzes‹ zu verstehen: »Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten; die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen: der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt.«

Heute würde man sagen: Humboldt strebte – gegen eine Zerstückelung und bloße Instrumentalisierung der Naturerkenntnis – eine ›holistische‹, eine ganzheitliche Erfassung des natürlichen Wirkungsgefüges an. Das unvermindert, ja verstärkt anhaltende Ringen um ein angemessenes Verstehen der unglaublich komplexen Wechselwirkungen und Kausalgefüge der natürlichen Welt ist gerade heute eine der größten, wenn nicht die größte Herausforderung für die Forschung, ja für unser Verständnis von Natur überhaupt. Das Beispiel des Klimawandels verdeutlicht uns das unerbittlich: Wir sind noch längst nicht in der Lage, trotz aller hochdifferenzierten Forschungsergebnisse und aller unerhört komplexen Modellierungen das Klimageschehen als ›Ganzheit‹ zu durchschauen.

Alexander von Humboldts Forschen – das in der Begrifflichkeit und mit vielen Denkfiguren in seiner Zeit verhaftet war – enthält, recht verstanden, eine Aktualität, die über die Geschäftigkeit eines Jubiläumsjahrs weit hinausreicht.

Ludwig Fischer
Garten und Literatur Bis Ende 2017 berichtete Ludwig Fischer aus seinem großen Kräuter-Schaugarten in Benkel nahe Bremen, von dem er Abschied nahm, um sich von nun an stärker aufs Schreiben zu konzentrieren.
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Text: Ludwig Fischer
Bild 'Baron Alexander von Humboldt': Julius Schrader, 1859. Quelle: Metropolitan Museum of Art / metmuseum.org, Lizenz: Public Domain. https://www.metmuseum.org/art/collection/search/437640